Freiheit

Mein Weg 15. Teil

Begegnung auf der Burg

Auszug aus Wandeltreue

Im Hier und Jetzt sein

Ein Auszug aus meinem Buch „Wandeltreue“ (Seite 248): An einem Samstag im Juni beschließe ich, einen Ausflug auf die Burgruine Reußenstein zu unternehmen. Bevor ich die Ruine zu Fuß erreiche, lockt mich der Aussichtsfelsen, ein Plateau, auf dem nur wenige Menschen ohne Maske stehen und in die Runde schauen. Eine Wanderin grüßt mich freundlich und erzählt mir von ihren Ausflügen. Sie sei schon oft wegen der Aussicht hier gewesen. Wir erfahren voneinander, dass sie in demselben Ort aufgewachsen ist, in dem ich jetzt lebe. Das gibt ein Gefühl der Verbundenheit. Die Wärme der Sonne, der laue Wind sind angenehm und der Blick hinüber zu den Felsen und dem Wald ist gigantisch. Wir fühlen uns wohl und vertraut, was in den letzten beiden Jahren sehr selten geworden war, stellen wir fest.
Ein Mann, bestimmt ein Meter neunzig groß, fragt uns nach dem Wasserfall, der in der Nähe sein soll, während seine Frau und zwei Kinder, einige Meter von uns entfernt, die Aussicht genießen. Wir können ihm nicht weiterhelfen. „Das macht nichts“, meint er, hüpft, so groß wie er ist, mit beiden Beinen in die Höhe, wie ein kleines Kind. „Ist das nicht herrlich, wieder frei herumlaufen zu dürfen? Aus der engen Bude herauszukommen und … dieses Wetter.“ Der Hüne macht mit seinen Armen eine Bewegung, als wolle er vor Glück die Welt umarmen. „Gell, wie wir auf einmal mit Wenigem glücklich sein können“, meint die Wanderin. „Wer hätte das gedacht. Man muss uns nur eine Weile einsperren und schon freuen wir uns, wenn wir wieder raus dürfen“, ergänzt sie. Nickend lassen wir drei die Aussage stehen und unsere Wege trennen sich, wohlwissend, dass wir uns nicht mehr wiedersehen werden. Ich trage unsere Begegnung voller Glück im Herzen und gehe weiter auf die Burgruine zu.
Vom äußeren Wandelgang aus eröffnet sich ein fantastischer Blick auf ein weites Tal, was ein Gefühl der grenzenlosen Weite und Freiheit hervorruft. So muss sich ein Adler fühlen, wenn er hoch in den Lüften über die Landschaft schwebt. Ich bin in diesem Moment ein Adler und sehe unter mir Wiesen, Baumschulen, bewaldete Hänge in verschiedenen Grüntönen und goldgelbe Felder. In der Ferne heben sich zwei in den Landschaftstälern liegende Dörfer mit ihren roten Dächern von dem dunklen Grün der Wälder ab. Bewaldete Hügel, die wie Vulkane aussehen, erheben sich ungewöhnlich und unerwartet aus dem Gelände empor. Ich fotografiere und fotografiere und atme dabei nicht nur den warmen Wind ein, sondern sauge auch das Grün und die Weite in mich auf.
Da unterbricht mich plötzlich ein junger Mann. Er grüßt freundlich. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche. Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet, wie Sie immer auf der gleichen Stelle stehen. Was fotografieren Sie da? Das ist doch immer dasselbe.“ „Ich fotografiere die Freiheit“, antwortete ich ihm, selbst erstaunt, da die Worte nicht in meinem Kopf entstanden waren. Sie kamen aus meinem Herzen. „Oh, die Freiheit?“, ein fragender Blick. „Man sieht Ihnen an, dass Sie glücklich sind. Darf ich fragen warum?“ „Ich bin gerade im Hier und Jetzt. Es gibt kein Gestern und auch kein Morgen. Sonne, Wärme, Weite, Zufriedenheit, kein Zeitdruck, keine Vorschriften und niemand der etwas von mir will.“ „Oh, Entschuldigung. Da habe ich sie mächtig gestört.“ Er scheint es einerseits zu bedauern und andererseits spüre ich, dass er nicht gehen will. „Nein, so war es nicht gemeint. Sie stören mich ja nur ein bisschen“, lache ich ihn an. Was ich ihm nicht gesagt habe, ist, dass er mich bei meinem Adlerflug unterbrochen hatte. „Alles ist so klein von hier oben. Da wird das, was uns bisher so wichtig war, auf einmal belanglos.“ „Wie schön sie das gesagt haben. Das konnte ich so noch gar nie sehen. Für mich ist es einfach eine Landschaft.“ Der junge Mann lehnt sich neben mir mit seinen Unterarmen auf die Brüstung, sein Blick ist in die Ferne gerichtet, seine Augen schauen ins Leere. Mir ist klar, er geht nicht so schnell hier weg.
Er erzählt mir, dass er während der Pandemie seine Arbeit verloren habe, er in eine Depression gerutscht sei und in der Natur Hilfe suche. Ich schaue mir mit ihm die weite Umgebung an, erzähle ihm, was und wie ich alles sehe, und wie ich es zusammen mit dem Wind und der Sonne empfinde. „Ich bin sehr fasziniert. Wenn man die Welt mit Ihren Augen betrachtet, bekommen die Dinge eine ganz andere Bedeutung. Es berührt etwas im Inneren. Das war viel besser als alle Therapien, die ich bisher bekommen habe. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ „Ich bin Therapeutin.“ Wir lachen. Dankbar und mit mehreren Verbeugungen vor mir und wie mir scheint, vor etwas Größerem, verabschiedet er sich. Er war ebenso mein Therapeut, denn indem er sich an mich gewandt, ich ihm meine Beobachtungen und meine Gefühle offengelegt hatte, war auch etwas in mir aufgebrochen, das mich freier machte. Wenn unser Herz offen ist, nehmen wir Menschen und Situationen sensibler wahr und erkennen die Chance, die sie uns anbieten, um zu wachsen.