Gefangen
Mein Weg 23. Teil
Gedankengefangenschaft
Die Ichs
Medikamente unterstützen
Es ist 6:30 Uhr. Ich bin wach und denke schon. Es denkt und denkt. Ich kann noch nicht einmal aufschreiben, was ich denke, so flüchtig, unsinnig und ohne Zusammenhang plappert es weiter. Seit meinem Buch „Mein Verhältnis zu den Ichs“ merke ich schneller, dass mir durch die Ichs wieder die ganze Energie entzogen wird. Mein Körper kennt dieses Gefühl bereits und gibt automatisch nach, sodass ich wieder müde werde. Ich kann die Situation ändern, indem ich etwas für mich tue. Ich mache in Gedanken eine Aufstellung. Ich stelle mich, so wie ich bin, imaginär in den Raum und stelle meine Tumore, Knoten und Metastasen als Konvolut neben mich. Sie wählen für ihren Standort meine linke Seite. Ich empfinde, dass sie sich mir zugewandt haben. Bei näherer Betrachtung stelle ich jedoch fest, dass sie, wie immer, an mir vorbeischauen und nichts von mir wollen. Das kann ich nicht verstehen, denn sie scheinen förmlich an mir zu kleben. Ich schaue sie intensiv und fragend an. Sie bedeuten mir, dass ich es bin, die sie festhält. Ich stehe sehr dicht bei ihnen, aber sie nicht bei mir. Die unausgesprochenen Worte „Du bist gefangen“ stehen im Raum. Ich bin erleichtert. Sie scheinen endlich mit mir zu kommunizieren. „Du bist in deinen Gedanken gefangen“, schieben sie nach. Ich fasse zusammen: Ich bin dafür verantwortlich, dass es die Krebszellen gibt. Ich halte sie fest, weil ich in mir gefangen bin. Das liegt daran, dass ich Gedanken und Glaubenssätze oder gar Schwüre geleistet habe, die mich in einer Art Gefangenschaft halten. Meine Knoten und Metastasen sind das sichtbare und fühlbare Ergebnis.
Ja, gefangen fühle ich mich derzeit schon. Das wurde mir gestern klar, als mich ein liebevoller Brief einer Klientin erreichte. Darin schrieb sie, dass sie in meinem Blog gelesen habe, dass ich kein Mitleid wolle. Trotzdem gab sie mir einige Anregungen. Ich solle mich endlich mal um mich kümmern. Ich solle mir etwas Gutes tun, schwimmen gehen, spazieren gehen, die Natur genießen, mich in ein Café setzen, ein Buch lesen und ganz still in mir werden. Das habe sie von mir gelernt. Doch so, wie mein Körper derzeit tickt, lässt er nicht zu, dass ich selbst Auto fahre. Ich bin stark eingeschränkt, was Ausflüge in die Natur betrifft. Mit Stöcken, mit denen ich den Rücken stütze, kann ich um ein kleines Carree herumlaufen. Ich gehe oft die Treppen hoch und runter, was mir jedoch viel Mühe abverlangt. Ich mache isometrische Übungen, statt tanzen.
Die Nebenwirkungen meiner Medikamente unterstützen geradezu meine Gefangenschaft. Der Durchfall hält sich dank Reiki in Grenzen, erfordert aber sofortige Toilettengänge und nicht erst nach einigen Minuten. Die Müdigkeit zieht mir den Stecker, sodass ich mich mitten am Tag hinlegen muss und ungewöhnlich tief, aber nicht erholsam schlafe. Die Schlaflosigkeit in der Nacht hält mich oft mehrere Stunden wach. Die Schleimhäute werden angegriffen, die Antihormontabletten lassen trotz Übungen meine Muskeln schwinden und die monatliche Spritze soll die Knochen verhärten, lässt aber meine Gelenke steif werden. All das geht mir durch den Kopf. Meine gedankliche Gefangenschaft wird durch die Medikamente kräftig verstärkt. Sie erlösen mich nicht, sondern intensivieren meine gedankliche Enge. So stehen meine Knoten und ich in einer seltsamen Eintracht da. Es gibt keine Feindseligkeit, es fühlt sich an, als würden wir uns gut verstehen.
Da huscht ganz leise ein Gedanke, oder besser gesagt, ein Gefühl, vorbei. „Da stehen die Ichs und nicht Ulrike.“ Natürlich! Ich fasse mir an den Kopf. Ich bin aufgewacht und hatte diese unsinnigen Gedanken, also bestehe ich aus den Ichs. Ulrike hat das Buch nicht umsonst geschrieben und dabei unendlich viel gelernt – durch Recherchieren, Nachfühlen und Ausprobieren. Ulrike macht eine Minute lang das Lächelnmudra, atmet gleichmäßig tief durch und richtet den ganzen Körper auf. Daneben steht weiterhin das Knotenkonvolut. Das ergibt ein ganz anderes Bild. Die Knoten und Ulrike haben keine Gemeinsamkeiten. Ulrike hängt nicht an den Knoten und hält sie auch nicht fest. Ulrike schaut nach vorne, in die Zukunft, während Ulrike mit beiden Füßen in der Gegenwart auf dem Boden steht. Die Ichs verstehen sich mit den Knoten sehr gut. Es scheint, als lägen sie auf der gleichen Wellenlänge. Ulrike versteht das jetzt noch besser, denn Ulrike hat durch die Aufstellung mehr Informationen erhalten. Um bei einer Familienaufstellung an die Wurzel zu kommen, ist es wichtig, dass nicht die Ichs dastehen, sondern der autentische Mensch. Das gelingt indem der Vorname gesagt, gedacht und gefühlt wird.
Allerdings fühlt sich die Ulrike-Situation noch nicht ganz ehrlich an. Irgendetwas hält auch Ulrike noch gefangen. Die Fesseln liegen jedoch nicht mehr so eng an. Das erinnert mich an Geschichten aus früheren Leben. Die Aurachirurgie hat mich wieder in diese Richtung gelenkt.

Ich möchte den Menschen dort abholen, wo er steht, ihn ein Stück begleiten, damit er selbstständig weitergehen kann.