Antworten auf den Tod
Mein Weg 27. Teil
Seelen
Feinstofflichkeit
Auf der anderen Seite
„Hast du Angst vor dem Tod?“, fragte eine Bekannte. Die Diagnose Krebs, noch dazu mit Metastasen, lässt bei vielen Menschen wohl nur eine Schlussfolgerung zu: Tod. Ein früherer Klient bot mir an, mir die Adresse eines guten Hospizes zu geben. Seine Cousine habe es dort in den letzten Wochen sehr gut gehabt. Ich kann die Frage ganz klar mit „Nein“ beantworten. Der Tod an sich macht mir keine Angst, aber ich hätte Angst, dahin zu siechen und lange leiden zu müssen. In meiner fünfzigjährigen Tätigkeit habe ich sehr viele Variationen erlebt. Eine Patientin wollte vor ihrem Tod in der Familie aufräumen. Ihr Mann begleitete seine Frau, die wusste, dass sie bald sterben würde. Er merkte, wie wichtig es seiner jungen Frau war, alles ins Reine gebracht zu haben, bevor sie ging. Nach ihrem Tod bekam ich einen Dankesbrief, weil sie friedlich einschlafen konnte.
Wie ich zu Beginn meiner Artikel bereits erwähnt hatte, bekamen zwei meiner Patientinnen fünfzehn Jahre lang Chemotherapie als Infusion und in Tablettenform, so wie ich letztere bekomme. Sie hatten all die Jahre kein schönes Leben. Ob dieses leidvolle Leben mit einigen Lichtblicken durch die Chemotherapie und Bestrahlung verlängert wurde, weiß niemand. Manche Frauen konnten rechtzeitig die Krebsherde entfernen lassen, eine Bestrahlung und Chemotherapie erhalten und wurden geheilt. Meist waren es Frauen, die ihr Leben umkrempelten oder sehr positiv dachten, sodass die Krebszellen wahrscheinlich keine Chance hatten.
Bei meinen Familienaufstellungen habe ich mich regelmäßig in (längst) verstorbene Menschen, Seelen oder Energien hineingefühlt. Ich habe sie nie als negativ empfunden, sondern eher, dass sie noch etwas mitteilen wollten oder von den Hinterbliebenen so festgehalten wurden, dass sie nicht in die feinstoffliche Welt überwechseln konnten. Als mein Vater im Jahr 2010 starb, kam mir die Idee, mich in ihn hineinzufühlen. Denn bisher hatte ich keine Gelegenheit gehabt, einen Verstorbenen gleich nach seinem Tod zu spüren.
Ich versetzte mich in meinen Vater, der als Energie in der Wohnküche meiner Eltern oben an der Holzdecke kreiste. Ich vernahm, wie er sagte: „Wo wollen die denn alle hin? Wieso sind die nicht bei der Arbeit? Die solle was schaffe!“ Ich sah, wie meine Schwester und mein Schwager das Haus verließen und wie meine Mutter aufräumte. „Vater, du bist gestorben, und jetzt haben sie alle Hände voll zu tun, deine Beerdigung vorzubereiten und diverse Ummeldungen zu erledigen.“ „Schwätz doch net so raus. Ich bin doch da“, war seine Antwort. Ich war zu der Zeit nicht im Elternhaus, sondern 130 Kilometer entfernt. Ich sah, dass der Körper meines Vaters im früheren Esszimmer aufgebahrt war. Und ich vernahm ein Klingeln. Der Leichnam wurde abgeholt. Ich rief meine Mutter an, doch bevor ich etwas sagen konnte, meinte sie: „Du, ich habe keine Zeit, der Vater wird gerade abgeholt.“ Er huschte an mir vorbei und sah der Szene zu. Nach etwa einer Stunde – ich hatte gerade einen Patienten behandelt – fühlte ich mich wieder hinein. Jetzt sah ich den Körper meines Vaters in einem Sarg im Aussegnungsraum des Friedhofs liegen.
Dort war ich noch nie. Ich sah die rot gepolsterten Stühle, die um den Sarg standen. Ich setzte mich auf einen davon, mein Vater setzte sich neben mich. Ich meinte, jetzt könne er ja seine eigene Totenwache halten. Er war immer noch zornig. Unbeherrscht kam es aus ihm heraus: „Das kann nicht sein. Wieso liege ich hier und schaffe nichts?” Mit einem Schwung wollte seine Seele oder seine Energie in den toten Körper fliegen. Es tat einen großen Ruck, und die Energie meines Vaters glitt zu Boden. „Heidanei“, fluchte mein Vater. „Der isch ja ganz hart und kalt.“ „Vater, glaub mir, du bist gestorben. Du hast mitten in einem Satz keine Luft mehr bekommen, weil der Stein in deinem Bauch so groß war, dass er dir die Lunge abgedrückt hat.“ Er gab nach, setzte sich wieder neben mich und meinte: „Dann muss ich endlich nichts mehr machen.“ Er entspannte sich. Mir wurde klar: Sein ganzes Leben lang war er immer unter Strom gestanden und hatte sich „zusammengerissen“, um stark zu wirken. Seine Wut oder sein Zorn waren sein Motor. Durch die dabei gebildeten Stresshormone holte er sich die Kampfeskraft, die er sein Leben lang brauchte. Wir saßen noch eine Weile still nebeneinander. Dann verließ ich ihn wieder. Meine Mutter rief mich an und berichtete, wie alles bisher gelaufen war. Das deckte sich mit meinen eigenen Erlebnissen. Bei der Beerdigung stand mein Vater neben mir, sah ins Grab und meinte: „Nichts bleibt. Aber was machen wir mit der Mamme?”
Einige Tage später fand ich meinen Vater immer noch an seinem Grab stehen. (Ich spürte seine Energie, die nicht mehr ganz die Form eines Menschen besaß.) „Vater, komm, wir gehen jetzt zu meiner Mutter.” Hand in Hand schwebten wir, zwei Seelen, vom Friedhof, der außerhalb des Dorfes liegt und von Wiesen und Wald umgeben ist, durch den Ort zu unserem Bauernhof. Mein Vater setzte sich wie gewohnt auf seinen Platz auf der Eckbank. In diesem Moment rief meine Mutter an: „Ulli, ich habe das Gefühl, als wäre der Vater gekommen und würde neben mir auf der Eckbank sitzen.“ Ich bejahte.
Ich habe nur die verkürzte Version erzählt, aber alles, was ich mit Vaters Energie erlebt habe, wurde mir von meiner Mutter oder meiner Schwester bestätigt. So auch der letzte Akt: Nach einigen Jahren wurde die Energie meines Vaters immer feinstofflicher. Er meinte, dass er jetzt gehen könne, da er nicht mehr auf die Mamme – so nannte er liebevoll seine Frau – aufpassen müsse. Und wieder kam prompt ein Anruf von meiner Mutter: „Ulli, ich glaub, der Vadder isch jetzt gange.“ Es war für mich ein sehr schönes, intensives Erlebnis.
Im Gegensatz zu meiner Mutter, die sieben Jahre später im Alter von 95 Jahren starb. Sie verbrachte die letzten Monate in einem liebevoll geführten Pflegeheim, in dem sich meine Schwester rührend um sie kümmerte, während ich nur am Wochenende zu Besuch kam. Eines Morgens, während ich einem Patienten den Rücken massierte, bekam ich ein Bild von Mama, wie sie in einem Krankenbett lag, umgeben von ihrer Mutter, meinem Vater, ihrem im Krieg gefallenen Bruder und ihrem Vater. Da durchkam mich ein Gedanke: „Mama wird von allen wie ein kleines Kind abgeholt. Sie ist gestorben.“ Ich hatte ja mal kinesiologisch ausgetestet, dass meine Mama eine Kleinkindseele ist. Das hat sich im Leben schon oft bewahrheitet. So auch jetzt. Nach der Behandlung rief ich meine Schwester an. Sie erzählte mir aufgeregt, wie unsere Mutter gestorben ist: „Sie war noch so munter, und von heute auf morgen war sie nicht mehr ansprechbar. Sie musste in eine Klinik eingewiesen werden, und letztendlich starb sie an Organversagen. Im Pflegeheim hatte die zuständige Ärztin eine Grippeimpfung für alle durchgeführt, ohne zu fragen, ob wir das wollten. Unsere Mutter hatte noch nie Impfungen gut vertragen. Diese auch nicht. Wir haben nichts unternommen, denn unsere Mutter wollte sterben, da alle ihre Freundinnen schon gestorben waren und ihr Mann schon so lange tot war. Meine Schwester hat zu der Zeit tief im gleichen Raum geschlafen. Als unsere Mutter abgeholt wurde, konnte sie niemanden von uns gebrauchen, um zu gehen.
Vor dem Tod habe ich keine Angst, nur vor dem dahinsiechen. Aber erstmal habe ich vor zu leben.

Ich möchte den Menschen dort abholen, wo er steht, ihn ein Stück begleiten, damit er selbstständig weitergehen kann.