Imagination
Mein Weg 10. Teil
Die Bank der Wahrheit
Gefühle fühlen
Seltsame Überraschung
Es ist April, ich liege im Krankenhaus und es ist vier Uhr morgens. Ich bin wieder einmal früh aufgewacht und könnte mich ärgern, noch nicht lange geschlafen zu haben. Solche stillen Stunden nutze ich allerdings gerne, um meine Übungen zu machen. Meine Ich-Gedanken sind noch nicht richtig wach, und in diesem Zustand kommen mir die besten Ideen.
Anerkennen, was ist. Zustimmen, wie es ist. Annehmen, was ist, und es sogar liebhaben, wenn es geht. Genau das wollte ich mit meinen Tumoren und Metastasen machen.
Die Übung mit der Bank habe ich mit vielen Patientinnen und Patienten gemacht. Hier zwei Beispiele:
Ich stelle mir eine wunderschöne Bank vor und stelle sie an einen Ort, an dem ich mich wohlfühle. In meinem Fall ist es eine weiße Holzbank, die auf meiner Lieblingsinsel auf den Seychellen am Strand steht. Ich stehe hinter der Bank und sehe, dass rechts jemand sitzt. Ich gehe links um die Bank herum und frage, ob ich mich dazusetzen darf. Manchmal erhalte ich ein Nicken oder ein Gebrumme als Zustimmung. Ich setze mich links auf die Bank. Ich atme ein paar Mal tief durch und schaue über den Strand zum Wasser, das manchmal grün und manchmal blau schimmert. Ich werde neutral. Dann beginne ich ein Gespräch mit meinem Banknachbarn. Dieses Mal ist es meine Leber. Sie ist einsilbig und gibt mir nur kurze Antworten oder brummt einfach. Ich frage sie, ob sie sich auf meinen Schoß setzen möchte und ich sie umarmen darf. Sie nickt und rückt näher. Ich setze sie so auf meinen Schoß, dass ihr Gesicht zu mir schaut und ihr Rücken dem Meer zugewandt ist. Ich sage nichts, sondern drücke liebevoll, aber bestimmt meine Hände auf ihre Wirbelsäule, um ihr Halt zu geben. Da fängt sie an zu schluchzen. „Ich schaffe es nicht mehr. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Ich habe sie lieb. Sie ist meine Leber, und ich habe irgendetwas getan, wodurch sie sich überfordert fühlt. Im selben Moment, in dem ich Zärtlichkeit für die Leber empfinde, löst sie sich in meinen Armen auf. Ich hatte zwar die Leber gesehen, aber ich konnte lediglich ihre momentanen Gefühle im Arm halten, die mir nicht bewusst waren.
Ein anderer Tag, ein anderer Fall, dieselbe Übung: Dieses Mal ist es meine Blase, die nicht immer dicht hält. Während ich sie auf dem Schoß in meinen Armen halte, weint sie und schluchzt: „Und dann muss ich das machen und das und dann auch noch das. Es hat einfach kein Ende.“ Sie hört gar nicht mehr auf. Ich muss an meine Kindheit denken, als meine Eltern mir einen ihrer wichtigen Sätze mit auf den Weg gaben: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Die Arbeit nahm nie ein Ende. Sie durften das sagen und tun, das sah ich ein, aber dass ich es mit mir selbst so weitergemacht habe, war das Schlimme. Ich konnte Zärtlichkeit für meine Blase empfinden, sie verschmolz mit mir beziehungsweise ihre Gefühle konnten durch diese Übung wegfließen.
Nun lag ich mit Rückenschmerzen im Bett und stellte mir wieder meine Bank vor, auf der all meine Tumore und Metastasen saßen. Die Sonne schien, das Meer war ruhig und schimmerte im schönsten Türkis. Als ich fragte, ob ich mich dazusetzen dürfte, gaben sie mir keine Antwort. Nach einer Schweigeminute wollte ich mein übliches Gespräch beginnen, aber die Knoten ignorierten mich. Sie taten so, als sei ich nicht da. Ich zwang sogar eine Metastase auf meinen Schoß und hielt sie fest in meinen Armen. Sie wand sich, stemmte sich gegen mich und befreite sich aus meiner Umklammerung. Eine solche Reaktion hatte ich bisher noch nie erlebt. Alle Tumore starrten einen bestimmten Fleck in einiger Entfernung am Strand an, als würden sie auf etwas warten. Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts erkennen. Plötzlich hatte ich eine Ahnung: Es könnte meine Mutter sein. Bei diesem Gedanken verblasste allerdings das vage Bild. Drei Monate später sollte ich die Lösung erfahren.

Ich möchte den Menschen dort abholen, wo er steht, ihn ein Stück begleiten, damit er selbstständig weitergehen kann.