Gelassenheit
Mein Weg 16. Teil
Loslassen
Materiell verhaftet
Vogelvoliere
Vor zwei Wochen bin ich nun in meine kleine Wohnung gezogen. Es war nicht leicht, eine große Wohnung mit mehreren Zimmern, das gesamte Praxisinventar mit unendlich vielen Büchern, Akten und Aufschrieben sowie ein Büro so zu minimieren, dass in meiner 45 m² großen Wohnung noch Platz für mich ist. Wie viel Wissen ich in Ordnern gesammelt habe! Ich weiß, dass sehr viel davon im Gehirn und Körper in den Hintergrund gedrängt wird, weil oft Unwichtiges in den Vordergrund tritt. Deshalb ist es sinnvoll, Dinge aufzuschreiben und zu archivieren. Wenn ich nach langer Zeit einige Aufschriebe durchlese, merke ich, dass ich sie nicht mehr brauche oder dass ich sie so verinnerlicht habe, dass ich sie nicht mehr vergessen werde. Ich habe erst jetzt gemerkt, wie sehr ich an materiellen Dingen hänge und wie sehr ich mich emotional mit Büchern, Nippes und auch Einrichtungsgegenständen verbunden fühle.
Habe ich Menschen, denen das Materielle über alles galt, nicht manchmal ein bisschen verurteilt? Stimmt es, dass man sich an Dingen und Charakterzügen anderer Menschen stört oder sie gar verurteilt, weil man diese Eigenschaften selbst in sich trägt? Weil man sie verdrängt hat oder weil man sie nicht zulässt? Ich würde sagen: Ja.
Gelassenheit kommt von „gelassen haben“. Loslassen, freigeben, fortlassen, nicht mehr festhalten. Es sind sehr viele Tränen geflossen. Als ich dann endlich soweit war, loszulassen, wollten meine Kinder und ich die guten Möbel, Bücher und vieles mehr verkaufen. Wir wurden jedoch enttäuscht. Selbst für wenig Geld wollte niemand die guten Stücke erwerben. Wir wollten die Möbel an Möbelhallen verschenken, die sie an Menschen weitergeben, die neu in unser Land kommen oder an Personen, die sich keine neuen Möbel leisten können. Es war grauenhaft, wie der Begutachter der Möbel kopfschüttelnd durch die Wohnung ging. Das alles will keiner, unsere Lagerhalle ist voll. Tut uns leid. Einige weniger gute Stücke hat er dann abholen lassen. Murrend hat eine Familie ein Jugendzimmer abgeholt, das ich gerne behalten hätte, aber ganz sicher keinen Platz dafür habe. Es war zu viel verlangt, die Möbel umsonst zu bekommen, aber sie abholen zu müssen. Nicht einmal geschenkt wollten die Leute sie haben. Meine Familie und viele Freundinnen waren Wochen damit beschäftigt, zum Wertstoffhof zu fahren und all die gut erhaltenen Möbel, Lampen, Stühle, Bilder und Bücher in den Sperrmüllcontainer zu werfen. Wo sind all die Menschen, die „nichts“ haben, die sich „arm“ nennen? Täglich werden wir in den Medien darüber informiert, wieviele Menschen bedürftig sind. Wir sollen spenden und teilen. Gerne, aber mit wem, für wen? Eine frühere Patientin war genauso gefrustet, traurig und verwundert wie ich. Sie hatte vor einiger Zeit die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter aufgelöst. Diese hatte moderne Möbel und Geschirr besessen und war sehr pfleglich damit umgegangen. „Einen Esstisch haben wir unentgeltlich abgeben dürfen. Alles andere landete in einem Container. Da frage ich mich: Wo sind all die bedürftigen Menschen? Wo kann man sie erreichen? Wo sind die Organisationen, die Wohnungen vergeben und sie einrichten?“
Na ja, es ist geschafft. Mit der Hilfe meiner Familie und Freundinnen bin ich umgezogen. Ich habe sogar noch ein paar freie Schubladen. Wenn ich mich so umsehe, dann stehen in meinen Regalen und liegen in meinen Schubladen zu drei Viertel Unterlagen und Utensilien, Untersuchungs- und Behandlungsgeräte aus der Praxis. Ein Viertel ist privat. Als Nächstes ist meine Küche dran. Meine Traumküche, in der jeder Millimeter ausgenutzt ist, ist mindestens sechsmal so groß wie meine neue Küchenzeile. Ich gehe immer wieder in die alte Küche hinein, schaue verstohlen in alle Schubladen, öffne Schranktüren und überlege, welche Dinge ich in letzter Zeit nur selten gebraucht habe und was sich im Alltag bewährt hat. Ich besitze ein fast vollständiges Geschirrset von Rosenthal, das seit vierzig Jahren nur zu besonderen Anlässen verwendet wurde. Für den Alltag habe ich ein weniger gutes und günstigeres Geschirr. Jetzt habe ich beschlossen, das „gute“ Geschirr für den Alltag zu benutzen. Mit einem Besteck geht es mir genauso. Diese Entscheidung hat in mir eine unbändige Freude ausgelöst. „Wenn nicht jetzt, wann dann?” Das ist wohl die Vogelvoliere, in der ich bisher saß, mich in meiner Kindheit eingerichtet habe und die Außenwelt nur durch einen Zaun wahrgenommen habe. In diesen Tagen höre ich meine Mutter aus Kindertagen immer sagen: „ Das hebe mir uf, wenn wiedder schlechte Zeide kumme. Was ma dann net brauche, kann ma aber dausche.“
Von Gelassenheit spüre ich noch nichts. Vielleicht bin ich noch zu sehr in alten Mustern gefangen und lasse das Freiheitsgefühl nicht zu. Ich habe mir schon öfter Gedanken darüber gemacht, warum ich mich nach Wasserfällen und den Segelflügen von Greifvögeln sehne. Sie bedeuten für mich Freiheit, Leichtigkeit und Ungebundenheit. All das bin ich wohl nicht, denn sonst müsste ich mich nicht danach sehnen. Ist es so, dass ich mich nur in dem Raum der großen Vogelvoliere wohl und geborgen fühle, weil ich nichts anderes kennengelernt habe? Weiß ich gar nicht, wie es ist, dort herauszukommen oder mich draußen zu bewegen?

Ich möchte den Menschen dort abholen, wo er steht, ihn ein Stück begleiten, damit er selbstständig weitergehen kann.